Hinter Biografien zu schauen, ist eine spannende Sache. Nichts bringt einen weiter als das konkrete Leben. Besonders begeistert war ich von einem Treffen mit Nael el Nahawi. Er ist ein Unternehmer in Wolfenbüttel, der sich nicht nur mit seinem Unternehmen beschäftigt. Ihm liegt auch das Große und Ganze am Herzen.
Ich mochte das letzte Mal hier gewesen sein, als ich ihn gelesen hatte. Den Steppenwolf von Herrmann Hesse. Beim ungewöhnlichen Ende eines langen Gespräches sprechen wir kurz über diesen Roman. Gegen Mittag war ich mit Nael el Nahawi verabredet gewesen. Beim Kamingespräch mit Frank Oesterhelweg hatte ich ihn kennengelernt. Seine Ausführungen waren so spannend, dass meine Neugierde geweckt wurde. Wer steckt hinter dieser Unternehmerpersönlichkeit, die vor vielen Jahren den alt eingesessenen Wolfenbüttler Druckereibetrieb übernommen hatte?
Über den Tellerrand
Dass Nahawi den Betrieb durch gefährliches Wasser manövriert und den Standort erhalten hat, ist Beweis, dass er eine erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeit in der Lessingstadt darstellt. Was er zum Thema Volkswirtschaft und Sozialstaat bei der Gesprächsrunde im Forsthaus ausführte, zeigt, dass wir hier eine Persönlichkeit haben, die über ihren Tellerrand hinaus blickt und der es lohnt zuzuhören. Das Ganze war natürlich in der Kürze der Talkrunde erst einmal ein Eindruck. Und spätestens beim Steppenwolf, von dem er am Ende des Gespräches berichtet, verdichtete sich dieser Eindruck.
Der Weg zur Spezialisierung
Damals, als ich das letzte Mal die Pforten von Roco-Druck durchschritt, verdiente ich mir ein paar Euro für das Studium zu Hause. Dort, wo heute Fitnesshungrige ihren Körper stählen, wurden u.a. Bestseller in Folie verpackt. Nicht die schönsten Erinnerungen. Aber eindrückliche. Das Cover des Steven King Bestsellers »Es« ist mir noch immer lebhaft vor Augen. Wenngleich ich das Buch nie gelesen habe. Diese Veränderung ist symptomatisch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Weg von der Produktion. Hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Hin zur Spezialisierung. Und diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist es, die Nael el Nahawi bewegt. Nicht, was seinen Betrieb angeht. Hier will er in den nächsten Jahren alle Kräfte anspannen, um den Standort (wie es fast bürokratisch heißt) zu erhalten. »Darüber mache ich mir keine Sorgen. Was mir Sorgen macht, das ist die ganze Entwicklung«, erklärt er.
Das System ist ein Räderwerk
Und die ganze Entwicklung, das zeigt sich in der Betrachtung des gesamten Systems. Man nennt das Volkswirtschaft und Nael el Nahawi vergleicht dieses System mit einer Maschine. »Eine Maschine besteht aus einzelnen Teilen, die ineinandergreifen. Das eine funktioniert ohne das andere nicht. Und dieses Bewusstsein ist im wirtschaftlichen Denken abhandengekommen«, meint er. Jeder sehe im wirtschaftlichen Arbeiten nur noch sich selbst und habe den Blick für das große Ganze verloren. Dabei sei der Sinn der Volkswirtschaft, dass es möglichst allen gut gehe. Die soziale Marktwirtschaft habe das nach dem Krieg zum Programm gehabt. Und die Früchte dieser Mühen drohten jetzt langsam zu verdorren. »Keiner nimmt Rücksicht auf den anderen. Man denkt nicht mehr: Geht es Dir gut, geht es auch mir gut«, versucht Nahawi das Problem zu erklären. Nur der eigene Vorteil stehe im Vordergrund.
Aus der Praxis in die Theorie
Er kommt aus der Praxis, aber gleichzeitig hat er sich in den letzten Jahren immer stärker auch mit Philosophie beschäftigt. So hätten ihn etwa die berühmten Selbstbetrachtungen Marc Aurels zum Nachdenken gebracht. Hier geht es um Vernunft und Gemeinwohl und um die Verantwortung der Verantwortlichen. Der Unternehmer ist sich sicher: Das Ganze kann nur funktionieren, wenn jeder das Beste gibt und sich zu vervollkommnen versucht. Jetzt liegt, wie erwähnt, Herrmann Hesses Steppenwolf auf seinem Nachttisch. Das Buch, das ich vor so vielen Jahren gelesen habe, und das die Suche des modernen Menschen nach Erlösung beschreibt. Trotz dieses theoretischen Überbaus sind die Überlegungen des Unternehmers praktisch. Er transformiert das Gelesene. Für den eigenen Betrieb heißt das: Jeder einzelne seiner 15 Mitarbeiter, und allen voran er selbst, müssten sich am Projekt des lebenslangen Lernens beteiligen, damit der Betrieb in der Lessingstadt gesichert werden könne. Roco produziert im Moment vor allem für die Industrie, nimmt sich aber auch kleinster Auflagen an. Die Zukunft sei wieder handwerkliches Können, ein Weg in den Manufakturbetrieb. Hier ist er optimistisch, was die Chancen angeht, das zu realisieren.
Rahmenbedingungen
Die Rahmenbedingungen dagegen sieht er kritischer. Es müsse ein Umdenken einsetzen. Der Markt müsse lernen, dass die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit auch bezahlt werden müssten. Mit »Geiz ist geil« kämen wir nicht weit. »Wettbewerb ist gut, aber wir müssen uns mit den Voraussetzungen von Wettbebewern auseinandersetzen«, gibt er kritisch zu bedenken. Das fängt beim Einzelnen und seinem Konsumverhalten an und endet bei der Verantwortung des Staates als Ganzem. Ein wichtiges Instrument sei die Bildungspolitik: »Hier muss der Staat Werte vermitteln.« Und dann müssten die Kommunen sehen, welche Auswirkungen etwa die Vergabepolitik auf die Wirtschaft habe. Die Regionen müssten das Bestreben haben, dass die Wirtschaftskraft dort bleibe. Hier schließlich funktionierte auch der Wettbewerb am besten.
Menschenbild und Bildung
Grundlegend jedoch ist nach der Auffassung des Unternehmers das Menschenbild. Hier analysiert er ganz nüchtern und verweist auf die historische Kontinuität eines großen Sicherheitsbedürfnisses, das sich in Deutschland etabliert habe. Sicherheit bedeute aber gleichzeitig starke Regulierung. Und das wiederum ist etwas, mit dem sich Nael el Nahawi bereits als Kind und Jugendlicher nicht anfreunden mochte. »Ich musste schon immer Strukturen verstehen und wollte für Abläufe den Grund wissen«, erinnert er sich. Und letztlich ist er überzeugt, dass dieses Freiheitsstreben notwendig dafür sei, die Voraussetzungen für eine solidarische und soziale Marktwirtschaft zu schaffen. »Als Unternehmer muss ich so viel Risikobereitschaft zeigen, dass ich mit allem, was ich habe für das hafte und eintrete, was ich mache«, gibt er zu bedenken. Damit schließlich unterscheidet er sich von dem modernen Managertypus, der die Unternehmen auf eine möglichst hohe Rendite hin kurzfristig verwaltet.
Das Gespräch sollte weiter gehen
Nach fast zwei Stunden verabschieden wir uns. Noch vieles mehr floss in ein Gespräch, das wie eine natürliche Fortsetzung der Kamingespräche scheint. Man könnte ein ganzes Buch daraus machen. Das Ringen um den besten Weg treibt Nael el Nahawi an. Dabei macht er nicht den Eindruck, als wolle er neben seinen Druck-Erzeugnissen einfache Wahrheiten verkaufen. Im Gegenteil. Der introvertiert wirkende Unternehmer macht eher den Anschein, als müsse er sich zu dieser Art von Austausch durchringen. Gesellschaftlich aber scheint genau das notwendig. Um sich besser zu verstehen. Um im Maschinenbild zu bleiben: Kommunikation ist wie Öl im Räderwerk der Gesellschaft. Insofern möchte man sich wünschen, dass Nael el Nahawi sich noch oft an öffentlichen Diskussionen beteiligt.