Was ist Wirklichkeit, was Traum? Sind Geschichten sowieso immer fiktional, selbst wenn sie autobiografischen Ursprungs sind, weil ja jede Sicht auf die Welt eine subjektive ist? Und hat Wirklichkeit oder Traum etwas mit der Wahrheit zu tun? Diese Fragen tauchten bei mir auf, als ich das »Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland« las. Sperriger Titel, unbekannte Autorin, Sarah Brooks, die sicher bald ein Name sein wird oder es längst ist. Denn das opulente Werk von über 400 Seiten wurde bereits in 15 Sprachen übersetzt, obwohl es der Erstling der Professorin ist, die in Asien und jetzt in England lehrt.
Ein sperriger Titel und mit solchen aufgeputschten Büchern habe ich eigentlich meine Schwierigkeiten, das heißt, ich nehme sie erstmal nicht wahr. Aber dieses Buch schaute mich in der Braunschweiger Bibliothek von einem Sonderaussteller aus an. 14 Tage Lesezeit, dann möge man das Buch wieder in den Kreis der Lesehungrigen zurückgeben. Eine Verlängerung sei nicht möglich.
Ich nehme das Buch kurz in die Hand, überfliege die ersten Zeilen, stelle es wieder zurück und strebe dem Ausgang zu. Dann besinne ich mich, kehre um. Wenn es noch da stünde, wollte ich es einmal versuchen. Ich gehe ruhig die Treppe wieder rauf, denn das Schicksal sollte entscheiden. Das Buch steht noch da. Ich setze mich auf einen Sessel und beginne zu lesen. Ein Bahnhof: »Auf dem Bahnsteig steht eine Frau mit geborgtem Namen. Mit Dampf in den Augen und dem Geschmack von Öl auf den Lippen. Das schrille, drängende Pfeifen des Zuges verwandelt sich in das Weinen eines kleinen Mädchens ein Stück weiter und die Rufe der Bauchladenverkäufer, die billige Amulette als Schutz gegen das Ödlandes anpreisen.«
Die Stimmung nimmt mich gefangen. Ein Zischen, Brummen und Vibrieren schafft Atmosphäre. Die Autorin kann schreiben: Stimmungen, Farben, Gemütszustände. Und Sie kann, das steht für mich nach dem Lesen der gut 400 Seiten fest, auch dramaturgisch eine Geschichte erzählen, die mich zu keiner Zeile ermüdet hat. Im Gegenteil. So wie der Zug, der in Peking seinen Startpunkt hat und der durch ein ominöses Ödland fahrend gen Moskau zu einer großen Ausstellung zustrebt, die den Triumph der Technik dokumentieren soll, zieht mich die Sprache und die Geschichte von Seite zu Seite weiter.
Der Inhalt, ohne zu viel zu verraten, ist gar nicht so spektakulär. Ein Zug als begrenzter Raum für eine Geschichte, in der sich die verschiedensten Menschen treffen: Eine aufgetakelte Gräfin, ein eitler Wissenschaftler, der gerade eine große Niederlage erfahren hat und nun von Rehabilitation träumt. Dann ist da eine junge Frau, die in dem Zug geboren ist und deren Heimat dieser stählerne Käfig mit seinem buntem Leben geworden ist. Vor allem gibt es noch eine andere junge Frau mit Geheimnis, die mit einem inneren Auftrag die Reise bewältigt. Die Mannschaft des Zuges besteht aus Chinesen, Japanern und Russen. Auch hier gibt es viele Charaktere, die während der Fahrt ihre Geschichte erzählen und deren Einzelgeschichten zu einem mehrstimmigen literarischen Chorstück werden.
Es ist das Ödland, das im Zentrum der Geschichte steht; das Ödland und der Antipode des technischen Zeitalters, der Zug, der diese Einöde mit seiner ganzen Kraft bezwingt. Die Menschen in dem Zug stehen zwischen diesen Gewalten. Es heißt, sie müssten einen hohen Preis für diese Fahrt zahlen, denn das Ödland brächte ein Weh, gleichsam eine mentale Überhitzung, an deren Ende nicht selten Verzweiflung und nervliche Zerrüttung stehe. Ein bisschen fühlt man sich an die Titanic erinnert, eine luxuriöse Welt inmitten lebensfeindlicher Naturgewalten. Denn Zug und Ödland scheinen miteinander zu kämpfen. Das Ödland dringt in den Zug ein und verwandelt ihn im Laufe der Fahrt auch stofflich.
Aber auch der Zug, so erfahren wir von Elena, ein Kind des Ödlandes, das als blinder Passagier eindringt und studieren möchte, was so einen Koloss bewegt und was sich in ihm bewegt, aber auch er verändere, zerstöre das Paradies, das vor den überhitzten Gemütern der Reisenden vorüberzieht und von ihnen Besitz ergreift. In dieser Geschichte, in der Hitze und Farben wabern, fantastische Gestalten auftauchen, aber kaum konkrete Züge annehmen, gibt es auch Allzumenschliches. Die Kompanie ist ein gieriger Betrieb in dem es nur um Geld geht und der auch über das Schicksal der Menschen brutal hinweg geht. Es geht um Rehabilitation und um den Wunsch nach Erkenntnis. Es geht um die alte Frage nach Identität. Die Menschen ringen während dieser Fahrt um die Frage, wer sie sind. Der Zug erscheint mir fast wie eine Metapher unserer kleinen umgrenzten Welt, die wir immer für das Ganze halten, obwohl die eigentliche Wirklichkeit an uns vorüberzieht.
Ich weiß auch nicht, ob die Autorin uns überhaupt etwas sagen möchte, ob die Geschichte eine Moral hat oder nicht. Aber irgendwie war mir das egal, als der Zug das Ödland verlässt, die russische Grenze überschreitet und die Grenzen zwischen Realität und Traum sich in den Abteilen auflösen und aus dem Gegensatz Technik und Natur plötzlich ein chaotisches Ganzes wird. Das Buch hat mich einfach fasziniert, und das ist ja auch eine Form von Wahrheit.
Sarah Brooks, Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland