Ich traf den bekannten Sommelier Jürgen Giesel in der Wolfenbüttler Rösterei Treccino und schwärmte mit ihm über Wein, Geschmack, Aromen und Strukturen.
Gutes Essen und ein entsprechender Wein. Das gehört einfach zusammen. Und wenn man auch Menschen irgendwie verstehen kann, die dem Trinken alkoholischer Getränke aus gesundheitlichen Gründen abgeschworen haben: Niemals mehr die ergänzenden Aromen eines Glases Wein neben denen zu spüren, die sich aus dem Essen heraus entfalten. Das möchte man sich nicht wirklich vorstellen. Umso gespannter war ich auf einen Interviewpartner, der als Koryphäe seiner Zunft gilt. Jürgen Giesel ist nicht nur irgendein Sommelier, sondern einer, der Preise und Ehrungen abgeräumt hat und, der vor allem in jungen Jahren fast alles erreicht hat, was man erreichen kann. Wir treffen uns im Treccino in Wolfenbüttel. Es sind zwei neue Kaffeesorten, Kolumbianer, da und da ist man natürlich auch sofort neugierig, was ein geschulter Gaumen so herausschmeckt. Sommelier oder Berufssportler. Nicht häufig wird man diese beiden Möglichkeiten in einer Biografie antreffen. Für Jürgen Giesel standen sie vor vielen Jahren als Option. Und wenn man ihn heute über das Thema Wein leidenschaftlich sprechen hört, man ahnt, dass er das Bällewerfen auf einen Korb genauso ehrgeizig betrieben hätte. Wenn es denn dazu gekommen wäre.
Leidenschaft zum Wein
Die Leidenschaft zum Rebensaft fing mit 18 Jahren an. »Während meine Freunde in dieser Zeit alle schon einmal einen ordentlich Rausch gehabt hatten, habe ich mich vor der Volljährigkeit nicht an Alkohol herangewagt«, erzählt er, während er den Kaffee verkostet. Kräftig, aber nicht zu viel Säure, wägt Jürgen Giesel ab, fügt jedoch gleichzeitig hinzu: »Ich habe mich ganz auf den Wein konzentriert. Deshalb würde ich mich hier mit einem Urteil zurückhalten.« Den Wein und seine geschmacklichen Dimensionen hat Giesel in der Weinstube Reblaus in Berlin so richtig kennengelernt. Dorthin wechselte er im zweiten Lehrjahr seiner Ausbildung. Dass es hier ordentlich Wein gab, liegt nahe. Dazu hatte der junge Lehrling Glück und traf auf einen Lehrmeister, der ihn zwar in eine harte Schule nahm, der ihm allerdings auch etwas vermitteln konnte. »Ich habe mich wirklich stark für das Thema Wein interessiert und alles aufgesogen«, erinnert sich Giesel. So, wie es in jeder guten Lehrzeit gehen muss. Irgendwann wächst man dem Meister über den Kopf und weiß mehr als er.
Ehrgeizig nach vorn
Dieser Zeitpunkt sei ihm noch lebhaft vor Augen, berichtet Giesel. »Danach hat er erst mal eine ganze Weile nicht mehr mit mir gesprochen«, lacht er. Damals war das wohl etwas angespannter. Das Restaurant sei klein gewesen und da konnte man sich kaum aus dem Weg gehen, erinnert sich Giesel. Aber wer ein Ziel vor Augen hat, erduldet manches. Und das lag nahe. Mit 19 bereits für die Weinkarte in einem guten Restaurant tätig zu sein, das ist schon allerhand. Das Schicksal führte die Regie und sicher auch der Ehrgeiz des jungen Auszubildenden. Entscheidend ist es immer, die richtigen Menschen im Leben zu treffen. Dieses Glück wurde Jürgen Giesel zuteil. Bei einem Seminar mit dem bekanntesten deutschen Sommelier Markus del Monego gewann er dessen Vertrauen und seinen nächsten Job durch die Vermittlung des Weltsommeliers. Bei der Deutschen Sommelier Union in Coburg. Es folgte eine Sommelier-Schule in Koblenz, die Prüfung mit 21 Jahren und das erste Arbeitsfeld in der Schweiz – damit war Giesel jüngster Sommelier. In diese Zeit fiel auch das Kennenlernen seiner Frau. Da sich bei Jürgen Giesel alles um das Thema Wein dreht, war es natürlich klar, dass die ebenfalls Sommeliere ist.
In die Sternegastronomie
Obwohl Jürgen Giesel eigentlich niemals in eine Sternegastronomie wollte. Es hat ihn dorthin verschlagen. Zum Wolfsburger Restaurant Aqua von Sven Elverfeld stieß er, als gerade der erste Stern in die Stadt der Autos ging. »Das war eine tolle Zeit. Es war viel Bewegung, viel Experimentierfreudigkeit in der Küche und da konnte man sich natürlich auch als Sommelier gut entwickeln«, erzählt er. Sein Anliegen sei es gewesen, nicht das Altbekannte auf den Tisch zu bringen, sondern das Unerwartete. Autochthone Trauben, kleine Anbieter mit dennoch großen Weinen. »Ein Wein muss mit dem Essen zusammen etwas Neues schaffen«, erklärt er seine Philosophie. Dazu griff Jürgen Giesel zu sehr unorthodoxen Mitteln. Etwa, als er mit seinen Gästen in schwarzen Gläsern neue Geschmackswelten erkundete. »Sommelier zu sein erfordert ein hohes Maß an Vertrauen und, wenn sich die Gäste da einlassen, dann entstehen oft tiefe Beziehungen. Über das kulinarische Event hinaus.« Es kam der zweite Stern, neue Herausforderungen, bis hin zur Erkenntnis, dass es anderer Wege bedarf, um sich am Ende nicht selbst zu kopieren. Echte Herausforderungen.
Vom Kenner zum Produzenten
Und was wäre naheliegender als die dort zu suchen, wo Weine selbst gemacht werden. Jürgen Giesel tat sich mit dem Weingut Scheu zusammen, um eine Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Chardonnay, der vom großen burgundischen Montrachet inspiriert ist, schwärmt er. 2011 kam der erste Jahrgang und seitdem experimentiert Jürgen Giesel und übt sich in der Kunst des Weinmachens. Diese Arbeit habe ihn verändert, erzählt er. »Während es mir früher hauptsächlich um die Aromatik des Weins geht, ist mir die Struktur heute mindestens genauso wichtig«, erläutert er. Struktur, das ist der Körper, die Bestandteile, die den Charakter des Weins ausmachen. Dazu gehört aber auch Geschichte, Klima, Bodenbeschaffenheit. Die erkundet er bei seinem Chardonnay nun überdies ganz praktisch. Bei der letzten Lese sei er mit seinen Kindern dort gewesen, berichtet Jürgen Giesel und habe erleben können, wie seine kleinen Kinder, den Charakter des Weins am Rebstock auf ihre kindliche Art für sich entdeckten. Das dürfte ebenfalls eine neue Dimension in seiner Arbeit geschaffen haben. Und das Vaterherz erfüllt es zudem mit Stolz.
Der Weinkommunikator
Für Höpfner Getränke stellt Jürgen Giesel nun seit einigen Jahren seine Expertise zur Verfügung, berät Restaurants als Fachberater für Wein und moderiert Weinproben. Eine Tätigkeit, die mehr als Job für ihn ist. Ich finde dort optimale Bedingungen für die Arbeit vor. Dort lernte ich ihn auch kennen, als er für die Brasserie an der Oker den Wein&Wirt-Abend gestaltete. Dort macht er das, was er liebt: Die Geschmackswelten großer Weine zu kommunizieren. Dass das eine »Never Ending Story« ist, kann man sich leicht vorstellen-. »Man kann niemals aufhören oder stehen bleiben. Denn es gibt so viel zu entdecken«, schwärmt er. Dass Genuss und Maß zusammenhängen, das verdeutlicht er ebenfalls. »Ich brauche nicht den großen Rausch, sondern den guten Geschmack«, so Giesel. Und den sucht er mit viel Beharrlichkeit. Ob im Urlaub, auf Dienstreisen. Ein Winzer findet sich immer. Und vielleicht auch ein Wein mit einer Vision. Jürgen Giesel, hat man den Eindruck, wird ihn aufspüren.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Kulinarisch38.