Der Blick in die Vergangenheit

Ein Sommertext aus der Corona-Zeit:

Auf dem Berg steht es da. Das Schloss. Eigentlich sieht es aus wie eine Burg. In den Straßen reihen sich die einfachen Fachwerkhäuser aneinander. Wie eine Perlenschnur. Ein bisschen verfallen, eng und romantisch. Aus unserer Sicht. Denn damals, als die Menschen hier lebten und arbeiteten, muss das Leben hart gewesen sein. Man blickte den Berg hinauf. Ob es Neid gab? Oder Wünsche? Ein Fluch? Oder war alles Gott gegeben? Wenn es die Deutschen waren, die es heute sind, dann war es Gott gegeben. Denn der Deutsche akzeptiert die Regeln.

Ich gehe hinauf, suche den Einstieg zu dem Ort, der für diese Menschen früher Utopie war. Ein Sechser im Lotto oder mehr. Da ist die alte Stadtmauer, die noch als Attraktion ein Leben fristet, ein halber Turm. Dahinter die Stadt, die Bürger, die Freiheit. Bei aller Enge gab es Freiheit. Es gibt kein Schild, aber das Handy hilft und navigiert. Das Handy leitet uns und führt uns und segnet uns. Jetzt den Berg hinauf, endlich doch ein Wegweiser und pilgernde Menschen.

Alles sieht so gleich aus. Neu Schwanstein oder hier. Menschen, die leicht vorn über gebeugt den Berg hinaufstreben und suchen. Sie suchen die Vergangenheit oder sich selbst. Sie staunen. Ich staune auch, denn ich bin ein Teil dieser Prozession. Die hier lebten, sind bestimmt nie zu Fuß herauf gegangen. Ich schwitze, ziehe die Wachsjacke aus, die Weste und schwitze trotzdem. Treppen, ein Durchbruch durch eine kleine Mauer, dann bin ich auf dem Hauptstrom.

Eine hässliche Raupe quält sich den Berg hinauf, ratternd, Diesel qualmend. In den Verschlägen sitzen Menschen. Ganz allein in den verglasten Abteilen und sie tragen Maske. Die Maske der Angst klebt auf ihrem Gesicht. Nur die panischen Augen schauen den Weg hinauf, den sich die hässliche Gelbe Raupe bahnt. »Wer will mitfahren?«, tönt es von einem anderen Gefährt. Alte, graue Pferde haben Fresstüten vor dem Gesicht. Sagt man Gesicht zu Tieren? Auch mit der Kutsche kann man in die Vergangenheit fahren.

Sie sehen nichts. Aber sie fressen und scheißen. Genauso wie die Menschen, die in der kleinen gelben Raupe sitzen. Nichts sehen und fressen und scheißen. Machen das die Menschen immer so? Oben angekommen lockt ein fantastischer Blick. Die Sonne scheint, der Wind pustet mich wieder trocken. Ich beginne zu frieren. Die Handys werden gezückt, und es rauscht ein Bildermeer in die Unendlichkeit der Chipkarten. Meine ist auch dabei.

Mensch mit Handy. Alles echauffiert sich. Aber ist das nicht der alte Traum der Menschheit? Alles einfangen zu können? Dem Augenblick Ewigkeit geben, und wenn es nur auf einem Handyspeicher ist? Wir sind flüchtig. Das Bild auf dem Handy ist es auch, aber es suggeriert einen Augenblick Ewigkeit. Nicht anders als jene, die in der Burg, in dem Schloss diese Momente auf Leinwand festgehalten haben. Sieben Euro kostet der Eintritt in die Vergangenheit. Natürlich mit Maske, versteht sich. Wir schützen uns und andere. Es ist wie ein Fetisch mit dieser Maske. Wir verstecken unsere Angst hinter einem Stück verrotzten Papiers und hoffen, dass das Schicksal uns nicht mit seiner unerbittlichen Hand ergreift. Erkenne, dass Du sterblich bist. Ob ich noch um 14.30 Uhr eine spezielle Führung mitmachen möchte. Hui Buh sei hier gedreht worden. Mit dem Geist mit der rostigen Rasselkette bin ich aufgewachsen. Aber ich habe ihn lieber in meiner Erinnerung.

Dann werden wir durch die Räume geschleust. Tour eins und zwei. Eine Kapelle für die frommen Stunden. Hier haben sie gesessen, die Mächtigen. Vielleicht haben sie gerade einen Krieg geführt, der die Menschen in den Fachwerkhäusern das Leben gekostet hat, und dann beteten sie hier in dieser wunderbaren Kapelle, die ihre neugotischen Züge in den Himmel wachsen lässt, für ihr Seelenheil. Vielleicht haben sie auch keine Kriege mehr geführt, denn das 19. Jahrhundert war für den Adel so etwas wie eine Disney-Veranstaltung. Die Zeit war schon über das Gottesgnadentum hinweggegangen, aber der Glanz strahlte noch.

Viele Zimmer, dunkles Holz, drängende Massen, die verstohlen das Handy zücken. Fotografieren verboten. Ein Arbeitszimmer und noch ein Arbeitszimmer. Betten, so klein, dass wie es heute kaum glauben. Auch in diesen Betten wurde geliebt und gestorben und geboren, geschwitzt in Angst und Lust. Und nun liegen sie da, unbenutzt und werden angeglotzt. Überall blickt uns der Reichskanzler an. Bismarck in allen Variationen. Noch hat sich kein Gleichstellungs – Komitee, keine Cancel-Culture-Gruppe an die Führungen gewagt. Bismarck war definitiv ein alter, weißer Mann. Und ein richtiges Ekelpaket noch dazu. Er hat das Reich geeinigt, heißt es so schön. In Wahrheit war es wieder ein Krieg mehr, viele Tote und Schreie und Tränen. Aber am Ende wurde das Reich ausgerufen. Ich sehe eine Skizze von Anton von Werner. Gekonnt und strahlend, wie das Poster, das in einem der Räume hängt, über deren Türen versprechend ein »original« steht.

Eine Tafel, in der Mitte saß seine Majestät, der Kaiser höchstpersönlich. Eine Erklärtafel erzählt von den Unbilden eines Hofmarschalls. 15 Stunden Arbeit, immer im Dienst für seine Majestät. Und wir stehen heute da, schwitzen unter der Maske wie Geßler unter dem Hut und staunen über die großen Leute. Hat sich etwas verändert, frage ich mich, als ich schon wieder den Weg nach unten nehme, inmitten der Prozession und überholt von der hässlichen gelben Raupe? Nichts hat sich verändert. Noch heute haben die Reichen ihren Hofmarschall, der jetzt Protokollchef heißt. Und wie damals sitzen wir in unseren Verschlägen und schauen rauf zur Burg.

Noch immer fluchen wir nicht. Und wenn jemand sagt, diese Mächtigen stricken an ihrer Macht, um die Welt nach ihrem Bilde zu formen, dann sind das Verschwörungstheorien. Aber wer möchte Verschwörungstheorien verbreiten? Also schweigen wir in unseren Häusern, hinter der Maske. Wir schweigen und schauen hinauf zu den Schlössern der Sehnsucht. Dort, wo diejenigen wohnen, für die das Leben ein Rausch ist. 

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